EuGH: Scheinselbstständig und Urlaubsabgeltung – und ohne Verfallsfrist?

Wenn ein Unternehmen mit dem Thema Scheinselbstständigkeit konfrontiert ist, beispielsweise nach einer Betriebsprüfung der Rentenversicherung, hat es ohnehin schon genug Ärger. Schließlich drohen meistens hohe Nachzahlungen an die Einzugsstellen der Sozialversicherungsträger. Dazu kommt in Zukunft möglicherweise noch ein Problem mehr. Der vermeintlich selbstständige Auftragnehmer könnte, wenn er als „scheinselbstständig“ eingestuft wird, einen Urlaubsanspruch beziehungsweise Anspruch auf Urlaubsabgeltung gegenüber seinem unverhofften neuen Arbeitgeber haben. Für Unternehmen könnte Scheinselbstständigkeit somit ein noch größeres finanzielles Risiko werden. Hintergrund ist eine Entscheidung des europäische Gerichtshofs (EuGH, 29.11.2017 – C-214/16).

Scheinselbstständiger will Urlaubsabgeltung haben

Der EuGH hat sich im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens mit Fragen rund um den Urlaub eines sog. Scheinselbstständigen auseinandergesetzt. Dieser (der Kläger) war auf Provisionsbasis für ein britisches Unternehmen tätig, und zwar scheinselbstständig. Als das Arbeitsverhältnis endete, verlangte er die Vergütung seiner Urlaubszeiten – und dazu auch gleich für den im gesamten Beschäftigungszeitraum nicht genommenen Urlaub.

Das britische Berufungsgericht hatte dem EuGH mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt. Insbesondere wollte es eine Antwort auf diese Frage: Steht es mit dem Unionsrecht im Einklang, wenn ein Arbeitnehmer erst Urlaub nehmen muss, bevor für ihn feststeht, ob er während dieses Urlaubs einen Anspruch auf Bezahlung hat?

Erst Urlaub, dann Klärung des Urlaubsanspruchs?

Die Antwort des EuGH war ein klares Nein. Der Anspruch auf bezahlten Urlaub sei schließlich ein bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union. Sinn und Zweck der Regelung sei es, sich während des Urlaubs zu erholen. Das sei dem Arbeitnehmer nicht möglich, wenn er nicht wisse, ob er seinen Urlaub vom Arbeitgeber bezahlt bekomme. Dies könne sogar dazu führen, dass der Arbeitnehmer erst gar keinen Urlaub beanspruche. Deshalb sei es nicht mit Unionsrecht vereinbar, wenn der Arbeitnehmer zunächst Urlaub nehmen müsse, um dann mit dem Arbeitgeber über die Bezahlung oder über eine Urlaubsabgeltung zu streiten.

Außerdem seien einzelstaatliche Rechtsvorschriften nicht im Einklang mit Unionsrecht, wenn sie dem Arbeitnehmer nur deshalb die Möglichkeit nähmen, Ansprüche auf Urlaub anzusammeln, weil der Arbeitgeber sich weigere, diesen zu bezahlen.

Was folgt für den Urlaubsanspruch von Scheinselbstständigen in Deutschland?

Das Bundesurlaubsgesetz schreibt vor, dass Urlaub im laufenden Kalenderjahr genommen werden muss, spätestens aber bis Ende März des Folgejahrs. (§ 7 Abs. 3 BurlG) Überträgt man die Grundsätze der EuGH- Entscheidung auf Deutschland, ist sehr fraglich, ob diese Urlaubsverfallregelung auch für zu abhängig beschäftigten Arbeitnehmern umqualifizierten Scheinselbstständige Geltung hat. Vermutlich kommt es bei ihnen zu keinem Verfall der Urlaubsansprüche.

Das hätte zu Folge, dass Scheinselbstständige einen Anspruch auf Urlaubsabgeltung gegen ein Unternehmen haben. Und das für die gesamte Dauer der scheinselbstständigen Tätigkeit für dieses Unternehmen.

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